Shqipëri – Adlerland

Der Kosovo will uns fast nicht gehen lassen. Erst vergessen wir Stellas Schuhe bei Familie Tolaj, dann ruft Argita an und sagt, Rosas Halstuch sei noch da, und wir treffen uns noch einmal zum Mittagessen. Endlich reissen wir uns los und fahren etwas südlich von Deçani den Berg hinauf in Richtung der Grenze. Am Strassenrand stehen zwei Männer neben ihrem weissen SUV mit albanischen Nummernschildern und sehen etwas verloren aus. Ob sie Hilfe brauchen, frage ich, do you need help? Englisch scheint schwierig zu sein. Do you speak English? frage ich, und der Ältere antwortet: Δεν ξέρω (den xero), nein, kann ich nicht. Aha, Griechisch geht also. Sie haben eine Panne und sind froh, dass wir sie bis zur nächsten Garage abschleppen – also wieder zurück. Beim vierten Anlauf gelingt es uns, den Kosovo zu verlassen. Den Grenzübergang passieren wir ohne Probleme. Und schon sind wir mitten in den albanischen Bergen.

Flach ist der Talgrund, schroff und wild sind die Felsen und Gipfel, die uns umgeben. Zuhinterst im Valbona-Tal haben wir vor einer Pension unser Zelt aufgestellt. Nach den vielen Stunden im Auto ist es höchste Zeit für einen Spaziergang. Die Kinder wollen sich bewegen, und vor allem muss Milo rennen und spielen können. Mit Futter und Ball laufen wir hinaus aufs breite Kiesbett der Valbona. Stop! Wait! Der junge Mann aus der Pension rennt hinter uns her, hält uns und warnt uns vor den Hunden hier im Tal. Am nächsten Morgen wird uns klar, warum. Im Garten der Pension liegt ein Schäferhund mit einer tiefen Wunde am Hinterlauf. Er atmet nur noch flach, Fell und Boden sind voller Blut. Ich steige die Treppe hinauf zur Pension und sage dem Besitzer, dass das nicht gut aussieht. Er wusste zwar Bescheid, kommt aber trotzdem runter. Der Hund stirbt vor unseren Augen. Er war zwar uralt, siebzehn Jahre, aber trotzdem ist die Stimmung in der Pension an diesem Tag gedrückt. Ich säge einen dicken Stock zurecht und bastle eine Art Pfefferbüchse – ein Konfitüreglas mit gemahlenem Pfeffer drin und Löchern im Deckel. Von jetzt an verlassen wir die Pension mit Milo nur noch bewaffnet.

Von hier aus dem Drin, dem grossen Fluss, entlang durch die Berge in Richtung Süden fahren. Dann irgendwo einen guten Platz finden, die Aussicht geniessen, zu Abend essen und im Zelt unter dem Sternenhimmel schlafen. So stellen wir uns das vor. Die Strasse schlängelt sich den Berg hoch. Die Aussicht über den Fluss ist tatsächlich eindrücklich. Aber etwas ist komisch. Das Licht. Irgendwie ist es gelb und schmutzig. Je länger wir fahren, umso dunstiger wird die Luft, die Augen jucken. Dann macht die Strasse eine lange Kurve um eine Bergflanke und uns wird schlagartig klar, was los ist: Der Wald brennt. Oberhalb der Strasse ist der ganze Hang abgebrannt. An manchen Stellen lodern immer noch Flammen. Im Rauch sind verkohlte Baumskelette zu erkennen. Ein himmeltrauriger Anblick ist das. Verzweiflung breitet sich in mir aus. Und Abscheu. Wie kann man nur einen Wald in Brand setzen? Nur vier von hundert Waldbränden haben natürliche Gründe. Alle anderen werden von Menschen verursacht – durch Unachtsamkeit oder in voller Absicht. Aus Dummheit oder Bosheit. Wie kann man nur? Wir schauen, dass wir so schnell wie möglich davon kommen. Im Dorf Kryezi, stellen wir im Garten der Bujtina Makry unser Zelt auf. Ich frage Marco, unseren Gastgeber nach den Waldbränden. I don’t understand it, sagt er mit finsterer Mine, ich verstehe es nicht. Wer kann schon einen schlechten Menschen verstehen – who can understand a bad person?

Fast drei Wochen sind wir in den Bergen unterwegs, oft auf abenteuerlichen Strassen und mit grossartiger Aussicht auf das Drin-Tal. Wir schlafen am Fuss des Berges Korab, des höchsten Gipfels von Albanien. Hier, umgeben von dieser Bergkulisse, verstehe ich plötzlich, warum die Albaner dieses Land in ihrer eigenen Sprache Shqipëri, Adlerland nennen. Und angesichts solcher Naturschönheit ist es umso unverständlicher, warum im ganzen Land so viel Abfall herumliegt

Einige Tage stranden wir am Ufer des Drin auf dem wilden Campingplatz Hoxha. Im kleinen, improvisierten Restaurant wird hervorragendes Essen serviert. Hier kommen Abends die Männer des Dorfes zusammen. Viele von ihnen sprechen Griechisch, weil sie früher in Athen, Larissa oder auf Kreta gearbeitet haben. Hier treffen wir auch Dimitri, der eigentlich Hamid heisst. Er erzählt von schönen, aber auch schwierigen Jahren in Griechenland. Rassismus sei ein Dauerthema gewesen. Mit einem muslimischen Namen bist du in Griechenland verloren, sagt er. Und wie bist du auf Dimitri gekommen? möchten wir wissen. Auf der Strasse, lacht er, meine Freunde und ich überlegten, wie wir uns nennen könnten. Und dann fanden sie, Dimitris – das passt!

Es wird Zeit, weiter zu reisen. Wir wollen nach Tirana und auch das urbane Albanien kennen lernen. Google Maps zeigt uns den schnellsten Weg über die Berge. Aber weil wir unterwegs dazugelernt haben, fahren wir nicht los, bevor wir in Klos einen Einheimischen gefragt haben, ob die Strasse mit unserem Auto zu schaffen sei. Kein Problem! erklärt er. Hier fahren alle durch. Es ist eine sehr schöne, sehr alte und sehr enge Strasse. Gepflasterte Serpentinen führen durch Wald und Felsen den Berg hinauf, ab und zu kommen uns andere Autos entgegen, die meisten älter und mit weniger Bodenfreiheit als unseres.

Nach einer Weile verschlechtert sich der Zustand der Strasse deutlich. Aber laut Google sind wir auf Kurs, also weiter. Jetzt wird es steil. Am Morgen hat es geregnet und alles ist nass. Und dann geht es nicht mehr. Die Vorderräder spulen nur noch, das Auto rutscht immer weiter an den felsigen Strassenrand – immerhin an der Bergseite. Ich versuche, irgendwie aus dieser blöden Lage heraus zu kommen, Daniel lotst, das Auto bewegt sich endlich rückwärts, schrammt dem Stein entlang und pffffffff – mit lautem Zischen entweicht die Luft aus dem rechten Hinterpneu. Mit Mühe gelingt es, auf ein etwas weniger abschüssiges Stück Strasse zurück zu rollen. Kein Grund zur Panik. Ich kann schliesslich ein Rad wechseln. Wir holen das Werkzeug heraus und machen uns an die Arbeit. Aber die Strasse ist auch hier immer noch steil. Der Wagenheber vermag das Auto nicht genug hoch zu heben. Und die Muttern am Rad sitzen so fest, dass wir sie selbst mit einem langen Hebel nicht lösen können.

Ein älterer Mann kommt mit seinem Esel vorbei. Er erkennt unsere missliche Situation auf den einen Blick. Keine fünf Minuten später ist er zurück – mit Resul, der Italienisch spricht und mit Roland, dem Automechaniker, der nicht nur Muskeln, sondern auch einen anständigen Wagenheber hat. Es dauert nicht lange, bis er das Reserverad montiert hat. Und dann lädt uns Resul ins Guesthouse ein, das er mit seiner Frau Fatmira führt, und wir trinken zusammen einen türkischen Kaffee mit Blick übers ganze Tal. Was für ein Ort! Am liebsten würden wir über Nacht bleiben. Aber die Strasse – jene, die wir hätten nehmen sollen! – befindet sich noch im Bau und ist tagsüber gesperrt. Wenn wir über die Berge wollen, müssen wir noch heute Abend fahren.

Die beiden Männner bei der Barriere fragen, woher wir kommen. Oh, aus der Schweiz! Shumë mirë, shumë mirë – sehr schön, sehr schön. Swiss franc! Sielassen nur die Autos vor uns passieren und erklären, hier sei die Strasse noch nicht fertig, und deshalb gesperrt. Die beiden diskutieren leise miteinander. Sie überlegen, ob sie uns für die Durchfahrt Geld abknöpfen sollen – Resul hat uns bereits davor gewarnt. Wir bleiben einfach sitzen, warten und ich lächle so ahnungslos wie ich nur kann zum Fenster hinaus. Auf einmal geht die Barriere auf, und wir rollen auf dem unfertigen Stück Strasse Tirana entgegen.

3 Kommentare zu „Shqipëri – Adlerland

  1. Einfach spannend,voller Abenteuer eure Reise.Glaube,da wäre ich stellenweise überfordert.Ihr sed Künstler im immer weitergehen auch in ungewissen Situationen.Die Reiseberichte lesen sich soooo spannend…Unglaublich…manchmal fast verrückt…und es kommt gut…E liebi Umarmig us Bigle Evi Wir geniessen warmes ,sonniges Herbstwetter…Zut gut!

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  2. Hallo liebe Familie
    Da bin ich wieder, war für eine kurze Zeit etwas absorbiert und musste dies und das regeln. Interessant, was ihr uns da alles erzählen könnt von dieser, ja, etwas abenteuerlichen Reise durch das Kosovo und durch die Albanischen Berge. Bald seid ihr wohl an der Adria und damit auch wieder am Meer. Bei uns ist das Wetter gut und wir freuen uns an den warmen Tagen.
    Wünsche euch alles Guten und bis bald.
    Ä Gruess, Thomas H.

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  3. Gerade habe ich noch einmal eure Albanien-Abenteuer gelesen. Bis jetzt hatte ich nur einen vagen Eindruck von diesem Land. Beim Darüberfliegen habe ich schon ein paar Mal die hohen Berge und die blauen Seen gesehen und habe mir vorgestellt, wie es da wohl ist. Jetzt, durch deine Beschreibungen, ist der Eindruck fester geworden.

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