Die Tage sind kurz geworden. Um halb acht wird es hell, nach fünf ist es wieder dunkel. So weit im Süden, wie wir hier sind, dauert die Dämmerung nicht lange. Gerade war es noch finster, dann ist schon die Sonne da. Eben war es noch Tag, dann schon wieder schwarze Nacht.
Der Südwind hat das Meer aufgewühlt. Lange Wellen rollen mit Gewalt an die Küste und donnern über die Felsen. Die Tamarisken, unter denen wir im Sommer am Strand Schatten suchen, sind nun vom Salzwasser umspült. Das Meer reicht oft bis an die Strasse heran. In den vergangenen Wochen haben wir unter den Olivenbäumen die Erde gelockert, stacheliges Unkraut ausgehackt und die abgeschnittenen Äste verbrannt. Es gibt immer noch viel zu tun. Doch seit Tagen fällt immer wieder heftiger Regen und macht die Arbeit draussen ungemütlich.
Wenn es das Wetter zulässt, erkunden wir die Umgebung. Seit über dreissig Jahren ist dieser Ort mein zweites Zuhause, und es gibt immer noch so vieles zu entdecken! Auf der Karte wählen wir jeweils eine der Kapellen aus, die überall auf dem Land verstreut liegen. Dann fahren wir mit dem Auto in die Nähe und machen uns zu Fuss auf die Suche. Wir spazieren auf Schotterwegen und Ziegenpfaden, klettern über Felsen Klippen und Zäune. Wenn wir die jeweiligen Heiligen – Theodor, Paraskevi, Georg, Pelagia, Charalambos oder Paulus – gefunden haben, zünden wir eine Kerze an, beobachten die Kirchenratten, rätseln über die verblichenen Fresken an den Wänden, essen Früchte, schwarze Σοκολάτα Υγείας („Gesundheits-Schokolade“!) und kretischen Zwieback und wandern wieder zurück.
Im Sommer bevölkern Schafherden die Berge. Jetzt weiden die Tiere hier unten am Meer, weisse Sprenkel auf den Feldern und unberechenbare Hindernisse auf den Strassen. Im Winter kommen die Lämmer zur Welt. Jeden Tag stolpern mehr davon hinter ihren Müttern her, und Stella quittiert sie fachkundig mit „Mää!“. Auf unseren Wanderungen treffen wir aber auch immer wieder auf tote Tiere. Verendete Schafe und Ziegen werden oft in Senken und Tälern unweit der Hauptstrasse entsorgt. Da liegen sie dann, in allen Stadien der Verwesung, und bereiten Rosa viele Fragen: Von welchem Tier sind diese grossen Knochen? Warum liegt der Kopf dort drüben? War dieses Schaf schon ein uraltes Grossmutterschaf? Ist diese Ziege abgestürzt? Warum stinkt es so? Und musste dieses Schäfli sterben, weil das grosse Schaf nicht gut darauf achtgegeben hat? Wir geben Antwort, so gut wir es wissen und können, froh über diese Gespräche, die so voller Leben sind.
Der Lockdown dauert an. Noch immer dürften wir das Haus nur aus triftigem Grund und mit entsprechender Bewilligung verlassen. Grund genug, erst recht zu einem Abenteuer aufzubrechen! An einem Strand in der Nähe schlagen wir das Dachzelt auf und essen trotz Wind und Kälte unser Znacht am Meer. Keine fünf Kilometer von zuhause fühlt es sich an, als wären wir weit weg unterwegs. Ob wir im Frühling unsere Fahrt nach Osten fortsetzen können? Ob die Grenzen dann offen sind? Wir wissen es nicht. Wir hoffen es. Später, als die Kinder längst im Zelt schlafen, stossen wir auf unsere Reise an. Der Himmel ist hoch und sternenklar.
so schön, danke. und spannend. lese und höre gern weiter, was ihr erlebt.
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Ihr Lieben, so schön von euch zu hören. Wieviel ist passiert , seit wir uns kennen gelernt haben! Vor habe ich die Ausgabe des „Reformiert“ Nr. 12 von 2012, da berichtest Du, Nadja, von Deiner Zeit in Athen. Es fasziniert mich, wie
gut ihr und eure Kinder in den verschiedenen Welten zurecht kommt. Ich hoffe, ihr könnt eure Träume weiter verwirklichen und übersteht Lockdown und kalte Wintertage weiterhin mit Zuversicht. Alles Liebe Sehr herzlich Helmute
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