Reise ins Unbekannte

Packen, Putzen und Spielplatz – das ist der Inhalt unserer letzen Tagen auf Kreta. Beim Aufräumen und Packen sind die Kinder nur bedingt eine Hilfe – oder besser gesagt: Sie helfen eher in der umgekehrten Richtung. Dafür sind sie beim Putzen tatkräftig mit dabei. Rosa wäscht mit ihrem Lappen beinahe unermüdlich die kleinen Glasscheiben ab, Stella unterdessen vor allem sich selbst. Daneben bleibt auf wundersame Weise genügend Zeit für zahlreiche Abschiedsbesuche und für viele Stunden auf dem neuen Spielplatz von Frangokastello. Kaum fertig zusammengebaut, sind die Schaukeln, Rutschbahnen und Klettergeräte bereits die Attraktion und der neue Treffpunkt des Dorfes.

Am Montag, dem 5. April, ist es so weit. Wir laden Kisten und Material in Millimeterarbeit ins Auto, trinken bei der Bäckerei einen letzten Kaffee und fahren dann über die Berge an den Hafen von Souda. Stella schläft in der Kabine beinahe augenblicklich ein. Rosa kann vor lauter Reiseaufregung erst schlafen, als wir auslaufen und die Lichter von Kreta kurz nach zehn Uhr in der Nacht verschwinden.

Früh am Morgen erreichen wir Piräus. Einmal mehr können wir fast nicht glauben, wie schlecht die Zu- und Ausfahrtstrassen rund um einen internationalen Hafen beschriftet sein können. Zum Glück kennen wir den Weg inzwischen gut und verfahren uns nicht im Häuserdschungel von Piräus und Athen. Auf der Autobahn nach Norden sind wir – sicher auch wegen der Corona-Vorschriften – beinahe allein unterwegs. Es dauert nicht lange, da haben wir Athen hinter uns gelassen. Etwas Wehmut klingt mit. Wie gern hätte ich diese Stadt wieder gesehen, die einmal ein Jahr lang mein Zuhause war! Doch der Besuch muss auf eine Zeit nach Corona warten.

Nach einem langen Reisetag klappen wir an einem Strand in der Nähe von Katerini unser Dachzelt auf, auf der einen Seite das Meer, auf der anderen der Olymp. Die Nacht ist sternenklar und eiskalt. Am Fuss des Olymp findet eine militärische Operation statt. Immer wieder brummen Helikopter über den Himmel und Kanonendonner hallt vom Berg wider. Der Sinn solcher Übungen ist mir einmal mehr vollkommen fern. Trotzdem schlafen wir gut, und als wir am Mittwoch Morgen erwachen, steht die Sonne schon am Himmel.

Gegen Mittag erreichen wir Thessaloniki. Die Kinder wollen nicht mehr in ihren Sitzen bleiben, sondern raus und herumspringen. So beschliessen wir kurzerhand, in Daniels Lieblingsstadt Zmittag zu essen. Auch hier sind alle Restaurants geschlossen. Doch nirgends gibt es so viele gute Bäckereien wie hier! Wir kaufen σπανακόπιτες, Spinattaschen und essen sie beim Weissen Turm. Rosa und Stella toben über die Paralia, und beinahe ist es, als wäre alles ganz normal.

Wenige Kilometer ausserhalb von Thessaloniki beginnt für mich das Unbekannte. Weiter bin ich zuvor noch nie gekommen. Wir fahren auf der Εγνατία Οδός, der Egnatia Odos. Diese Strasse war in der Antike die wichtigste Verbindung zwischen Rom und Konstantinopel, den beiden Metropolen des Römischen Reiches. Als Fortsetzung der römischen Via Appia im heutigen Italien verbindet die Egnatia Odos die östliche Adriaküste mit Konstantinopel. Heute ist sie zu einer grossen Autobahn ausgebaut. Und ich merke, was Griechenland auch hier wieder ist: gross, gross, gross. Stundenlang ziehen Seen, Berge, Hügel und Felder an uns vorbei, bis wir am Nachmittag Nea Karvali erreichen, ein Dorf direkt neben Kavala. Es ist schlechtes Wetter gemeldet, und weil wir keine Lust haben auf Dachzeltnächte bei unter fünf Grad, haben wir ein Zimmer gemietet. Um in die Türkei einzureisen, brauchen wir einen negativen Covidtest. Während wir auf die Ergebnisse warten, haben wir ausgiebig Zeit Nea Karvali zu erkunden.

Schon Eingangs des Dorfes fällt auf: Hier ist Griechisch nicht die einzige Sprache, die gesprochen wird. Viele Geschäfte sind auch auf Türkisch beschriftet. Die Häuser sind angeordnet wie auf einem Schachbrett, und auch wenn heute viele renoviert und erweitert worden sind, ist fast immer ihre ursprüngliche, einfachste Form noch erkennbar – sie sind alle gleich. Unsere Vermieterin Maria erzählt, dass Nea Karvali ein Flüchtlingsdorf sei. Nach dem Ende des Osmanischen Reiches und des ersten Weltkriegs sollte ein sogenannter „Bevölkerungsaustausch“ den Frieden in Griechenland und der Türkei sichern. Dabei wurden etwa 1.2 Millionen christliche Türken nach Griechenland und etwa 400’000 muslimische Griechen in die Türkei zwangsumgesiedelt. In Nea Karvali, so erfahren wir, wurden Flüchtlinge aus Kappadokien, aus Karbala/Gelveri, bzw. dem heutigen Güzelyurt angesiedelt. Sie sei bei ihrer Grossmutter aufgewachsen, erzählt Maria uns, und zuhause sei ausschliesslich Türkisch gesprochen worden. Sie empfinde Griechisch deshalb bis heute – hundert Jahre nach dem Bevölkerungsaustausch – als Fremdsprache.

Auf ihrer Flucht nach Griechenland nahmen die kappadokischen Christen auch wichtige Gegenstände aus ihren Kirchen mit. Darunter befinden sich auch Reliquien des Heiligen Gregor von Nazianz, der 329/30 auf einem Landgut in Karbala zur Welt kam und 390 ebendort starb. Welch ein Zufall! Da schreibe ich fünf Jahre lang an meiner Dissertation über den Thelogen Gregor von Nazianz aus Karbala. Und dann stehe ich auf einmal in der Kirche von Nea Karvali vor seinem Schädel, der hier zu besichtigen und zu verehren ist. Ihre Herkunft prägt die Menschen hier bis heute stark. So nennt sich der lokale Fussballclub denn auch stolz ΑΟ Ναζιάνζος, FC Nazianz!

Unsere Covidtests sind negativ. Also fahren wir am Freitag Morgen weiter in Richtung Osten – wieder zieht es sich, wie könnte es anders sein? Am Mittag erreichen wir die Grenze. Der Beamte wundert sich über unser Griechisch und möchte wissen, ob wir auch sicher Schweizer seien. Dann lassen wir Griechenland hinter uns. Ganz allein fahren wir über die Brücke über den Grenzfluss Evros. Bis in die Mitte sind die Geländer blau-weiss gestrichen, dann wechselt die Farbe zu rot-weiss. Still ist es, still und auch beklemmend. Auf der anderen Flussseite weht eine gigantische türkische Fahne. Als erstes müssen wir drei Euro bezahlen – wofür, wird uns nicht ganz klar, möglicherweise für die anschliessende Fahrt durch die Auto-Desinfektionsdusche? Auch an der türkischen Grenze geht alles reibungslos. Die einzigen Touristen ausser uns sind zwei bunt gekleidete Italiener in einem winzigen Fiat.

Dann sind wir in der Türkei. Es ist immer noch eiskalt. Für die ersten Nächte hier haben wir ein Zimmer in einer Pension reserviert. In der Nähe von Gelibolu, im Dorf Güneyli, werden wir mit Kaffee und λουκούμι, nein: Lokum!, herzlich empfangen. Jetzt nehmen wir uns Zeit, in diesem Land langsam anzukommen.

3 Kommentare zu „Reise ins Unbekannte

  1. Wunderschön, diese Beschreibung, Nadja. Als deine Eltern am 25. Mai 1974 mit ihren Rucksäcken über genau diesen Fluss und die Vorgängerin dieser Brücke gingen (es gab lange keinen Bus über die Grenze zwischen den beiden Ländern), stand dort, wo jetzt die Farbe des Geländers wechselt – auf der Grenze eben – ein gelangweilter türkischer Soldat, Gewehr bei Fuss. Deine Mutter Regina hat ihm freundlich eine Blume in den Gewehrlauf gesteckt – und sein Gesicht hat gestrahlt. Gute Reise weiterhin!

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  2. Liebe Nadjy, liebe Familie
    Mit Freude und Interesse folge ich eurer Reise durch Griechenland und nun wohl durch die Türkei. All eure Erlebnisse, welche du mit viel Begeisterung an uns weiter gibst, das lässt die Gedanken auf Reise gehen und man hofft, all diese Sachen im Geiste miterleben zu können. Habe sogar die Orte, welche in deinem Bericht aufgeführt sind, auf der Karte nachgeschaut. Ja, es handelte sich um lange Fahrten bis ihr dann in der Türkei angekommen seid. Hoffe gerne, dass ihr in der Türkei keinen Schikanen ausgesetzt sein werdet.
    Wünsche euch von Herzen alles Gute und viele neue Eindrücke in einem mir völlig fremden Land. Am Donnerstag, 15.04.2021, hat unser Vorstand seine nächste Sitzung. Schon bald wird sich der neue Vorstand konstituieren, ich freue mich auf eure Rückkehr, denn ich kann deine Unterstützung gut gebrauchen.
    Also, habt es gut und schaut zu euch!
    Ä Gruess us dr Heimat, Thomas H.

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