Hier hat jedes zweite Auto eine Schweizer Nummer. Auf der Strasse tummeln sich Zürcher, Tessiner, Thurgauer, Waadtländer, Aargauer, bescheidene Alltagsautos und teure Luxusschlitten, doch eines haben sie alle gemeinsam: Sie fahren halsbrecherisch. Acht Jahre nach unserer letzten Reise in den Kosovo sind wir heute wieder unterwegs nach Pristina. Nach der Zeltnacht beim Kebap-Laden an der serbisch-kosovarischen Grenze sind wir bestens erholt und ausgeschlafen. Wir finden sogar einen Schattenparkplatz und machen uns frisch und munter zu Fuss auf den Weg durch die Stadt. Es gibt einiges, was wir heute erledigen wollen: Eine kosovarische SIM-Karte kaufen, gute Landkarten von Kosovo und Albanien finden, und ich sollte ganz, ganz dringend wieder einmal zu einem Coiffeur.
Die SIM-Karten sind ausverkauft. Vielleicht gebe es am Nachmittag wieder welche, erklärt die Frau am Schalter. Oder dann morgen. Auch die Landkartensuche gestaltet sich schwierig. Vermutlich wissen hier die meisten Besucher sowieso, wohin sie wollen. Immerhin finden wir eine illustrierte Karte, auf der nicht nur die Strassen, sondern auch Berge, Wasserfälle, Wildschweine, Hasen und Rebhühner eingetragen sind.
Inzwischen ist es wieder richtig heiss und wir etwas weniger frisch und munter. Daniel ist mit Rosa, Stella und dem Milobär in den Stadtpark gelaufen, ich suche nach einem Coiffeur. Es ist ein schwieriges Unterfangen, alle sind komplett ausgebucht. Als ich endlich einen türkischen Salon finde, der einen Termin frei hat, bin ich völlig nassgeschwitzt. Färben und schneiden? fragt der sympathische junge Mann, und ich nicke erleichtert. Es beginnt gut. Doch dann kommt die Sache mit der Schere. Mit Damen-Kurzhaarschnitten hat Özgür offensichtlich keine Erfahrung. Je länger er herumschnippelt, umso mehr dämmert mir, dass er wohl mit überhaupt keinen Haarschnitten Erfahrung hat. Soll ich hier noch ein wenig? Oder da? fragt er, und sieht verzweifelt aus. Die Schere zittert in seinen Händen. Irgendwann brechen wir die Übung ab. Ich sage, es sei jetzt gut, bezahle zu viel und verlasse fluchtartig den Salon. Ich sehe aus wie gerupft.
Durch das grosse Tor fahren wir in den Hof. Hühner spazieren herum, das Kälbchen schaut zur Stalltüre heraus, und die Männer beim Traktor machen gerade eine kleine Kaffeepause. Regula, unsere ehemalige Pfarrkollegin aus dem emmentaler Nachbardorf und ihr Mann Klaus haben uns die Adresse von ihren Freunden in Deçani angegeben. Hier werden wir nun herzlich willkommen geheissen. Noch so gerne würden uns Tushe und ihr Mann Jeton in ihrem Haus beherbergen. Weil Rosa und Stella aber in unserem Zelt am besten schlafen, übernachten wir unter dem Baum im Hof der Familie Tolaj.
Argita, die jüngste Tochter, war schon mehrmals in der Schweiz, hat Germanistik studiert und unterrichtet jetzt am Gymnasium von Deçani Deutsch. Hätte sie mich auf der Strasse angesprochen, wäre ich nie im Leben darauf gekommen, dass das nicht ihre Muttersprache ist. Auch die ältere Schwester Valentina spricht gut Deutsch. Dank den beiden jungen Frauen und ihrer wunderbaren Familie fühlen wir uns auch bei unserem zweiten Besuch im Kosovo sofort zuhause. Wir werden eingeweiht in die Geheimnisse der albanischen Sprache. Wir erfahren, wie man das unsäglich geschriebene Wort qumësht (Milch) ausspricht – nämlich tschumscht. Und wir können nur staunen darüber, dass die Menschen im Dorf einander mit den Worten: a je lodhë? begrüssen, was so viel heisst wie: Bist du erschöpft? Worauf sie dann antworten: jooo, jooo, also neein, neein.
Rosa und Argita sind bald unzertrennlich. Mit ihrer neuen grossen Freundin geht Haarebürsten bei Rosa ganz ohne Geschrei. Gemeinsam sammeln die beiden Brombeeren, spazieren Hand in Hand durch den Hof des Klosters, erzählen einander Geschichten und holen abends die Kühe von der Weide ab.
Das Wunder geschieht, und ich finde in Deçani eine ältere Coiffeuse, die sich meiner erbarmt und mitten in der Hochsaison einen Termin für mich freischaufelt. Nach der Haarwäsche kämmt sie meine Haare glatt und macht sich ein Bild von der Situation auf meinem Kopf. Scheeeisse! ruft sie entsetzt. Wie eine Baby schneiden! Es gelingt ihr, die Frisur zu retten und nach zwanzig Minuten verlasse ich zufrieden und mit dem kürzesten Haarschnitt seit Jahren ihr Geschäft.
Seit wir vor acht Jahren das erste Mal in Deçani waren, hat sich hier vieles verändert. Die Spuren des Kosovokrieges waren damals immer noch allgegenwärtig. Ich erinnere mich an beschädigte und zerstörte Häuser, an Trümmerfelder, Stacheldraht und an abgesperrte Grundstücke. Heute ist davon nicht mehr viel zu sehen. Neue Läden wurden eröffnet, und es gibt inzwischen mehrere Restaurants. Der Schutt ist weggeräumt, die meisten Gebäude sind repariert oder wieder aufgebaut worden, viele sogar verputzt und gestrichen. Blumen blühen, Getreide und Mais stehen auf den Feldern. Der Anblick erfüllt mich mit tiefer Zuversicht.
Was sich nicht geändert hat, ist die Herzlichkeit der Menschen hier, die uns schon damals berührt hat. Im Sommer kommen die Ausgewanderten nach Hause in die Ferien. Weil es letztes Jahr fast unmöglich war zu reisen, haben viele ihre Familien zwei Jahre oder länger nicht gesehen. Doch jetzt sind sie wieder alle zusammen: Dagebliebene, Weggegangene, Heimkehrer. Sie essen und trinken, sie plaudern, sie schweigen, sie diskutieren, sie heiraten, sie feiern bis in alle Nacht hinein. In diesen Tagen ist das ganze Land ist ein einziges Fest.

Ihr Lieben, ich lachte schallend…der Coifeurbesuch von Nadja…..Die Rettung liess nicht lange auf sich warten. Du siehst – wie immer- auch mit dem „ganz Kurzhaarschnitt „.. . einfach hübsch aus.Die Freundschaften der Kosowarentöchter mit Rosa und Stella sind berührend… Eine herzliche Innigkeit von beiden Seiten. .Seid herzlich lieb gegrüsst und geniesst die Freundschaften und das Land. Herzlich Evi.
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Danke, liebe Eva! Beim Schreiben fand ichs dann auch lustig… 🙂 Herzlich, Nadja
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ich schliesse mich oben an, auch dieser haarschnitt steht dir gut. und ich musste natürlich auch lachen, wie du alles beschreibst…. es weckt erinnerungen an meine lehrerinnenzeit an der oberstufe, gerade als sehr viele flüchtlinge aus dem kosovo ankamen. schon nur die komplizierten namen, ich musste sie regelrecht auswendig lernen. und dann all diese schicksale… ja, sie waren und sind eine bereicherung unseres schweizer lebens, beidseitig mussten wir vieles lernen.😊 weiterhin gute reise und spannende berichte, mündlich und schriftlich…..
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