Jahreswechsel

Die Feiertage sind leise gekommen. Unter Hochdruck die letzten Zeilen der Predigt schreiben, fürs Weihnachtsmenu einkaufen, in der Kirche Beamer testen, nach Mitternacht übermüdet Geschenke einpacken, zwischen Windeln, Wäschebergen, e-Mails und dem letzten Schliff an der Christnachtliturgie den Tannenbaum schmücken – all das gibt es für uns dieses Jahr nicht. Weihnachten kommt mit wunderbar warmen Tagen, viel Sonne und noch mehr Ruhe.

Der Nachbar reicht uns am Vierundzwanzigsten einen grossen Olivenast über den Zaun, und wir stellen ihn in der Stube als Christbaum auf. Der Schmuck ist bescheiden: Einige selbstgeformte und bemalte Weihnachtskugeln, Papiersterne und eine kleine Lichterkette.

Tannenbäume haben hier keine Tradition. Ein viel wichtigeres Advents- und Weihnachtssymbol ist in Griechenland das Schiff. Es erinnert die Zuhausegebliebenen über die Festtage an all jene Familienmitglieder, die Weihnachten in der Ferne oder als Seeleute auf dem Meer verbringen. Und es steht für die Gottesmutter Maria, die wie ein Schiff ihre wertvolle Fracht aus der Ewigkeit in die Zeit trägt – ein Gedanke, der auch im bekannten deutschen Weihnachtslied „Es kommt ein Schiff geladen“ begegnet. Ein reich mit Lichtern geschmücktes Schifflein muss in diesen Tagen denn auch in jedem Dorf stehen – hier bei uns vor dem venetianischen Kastell, wo wir es Abends bewundern. 

Die griechische Regierung hat für die Weihnachtstage eine kurzzeitige Lockerung der Coronamassnahmen angekündigt, damit die Familien am Heiligen Abend zusammenkommen können. Für unsere Freunde in Chania eine Gelegenheit, endlich über die Berge in den Süden zu fahren. Seit Oktober haben sie die Stadt nicht mehr verlassen. Jetzt sitzen Despina und Christos mit uns auf der Terrasse an der Sonne und glauben es kaum, dass sie sich frei und ohne Gesichtsmaske bewegen können. Es ist so warm, dass wir am Nachmittag im Meer schwimmen gehen – und dabei nicht einmal frieren! Am Abend, beim Essen, fliegt ein Rotschwanz durch die Tür herein. Er umflattert unseren Oliventannenbaum, die Kerzen auf dem Tisch und die spielenden Kinder, dann verschwindet er durchs offene Fenster wieder hinaus ins Dunkel. Despina ruft: Es bringt Glück, wenn ein Vogel hereinfliegt!

In der Altjahreswoche setzen wir unsere Wanderungen fort. Wir finden den Heiligen Charalampos (den „Freudestrahlenden“) in einer Höhle am Meer, und die Agia Zoni, die Kirche des Heiligen Gurtes der Gottesmutter unterhalb einer Felswand. Weit über Chora Sfakion liegen die Ruinen des alten, verlassenen Dorfteils. An der Hand meiner Mutter steigt Rosa tapfer den steilen und steinigen Weg hinauf. Stella tragen wir am Rücken, aber weil sie immer häufiger und energischer „abe, abe!“ („runter, runter!“) ruft, darf auch sie eine Weile selber laufen. Wo immer wir hinkommen, sind bereits Schafe und Ziegen da, sie blöken und scharren, sie springen und fliehen, sie schauen von Felsen und Bäumen herab, beobachten, wer da vorbei kommt.

Eine andere Wanderung führt uns in die Nähe von Plakias. Einige Kilometer westlich von Sellia liegt in einer Talsenke, umgeben von uralten Olivenbäumen, das kleine Kloster des Erzengels Michael. Die Anlage aus dem 18. Jahrhundert war bis vor kurzem verwaist und im Zerfall begriffen. Seit einigen Jahren wird sie nun – offensichtlich mit grösster Sorgfalt und Umsicht – wieder restauriert. Als wir ankommen, ruhen die Arbeiten, kein Mensch ist da. Aber der Schlüssel steckt, und so können wir nicht nur in die Kirche, sondern gelangen auch in den Klosterhof. Es ist ein wunderbarer Ort, der mich mit seiner wohlgeordneten Stille sofort in seinen Bann zieht.

Eines Abends liegt auf der Strasse vor unserem Tor ein totes Lamm – eindeutig überfahren. Es macht mich traurig, und vor allem ärgere ich mich: In einer vernünftigen Geschwindigkeit ist es nahezu unmöglich, auf unserem Strässlein ein Lamm zu übersehen, zumal die Jungen immer mit ihren Müttern und der ganzen Herde unterwegs sind. Es dann halb flach einfach liegen zu lassen, zeugt von Ignoranz. Rosa und ich heben das jämmerliche Häuflein auf eine Schaufel. Die Feuergrube ist ohnehin voll mit Ästen, deshalb legen wir es oben drauf und zünden das Holz an. Erstaunlich, wie lange sogar ein so kleines Tier braucht, um zu verbrennen. Zurück bleibt ein schwarzes Klümpchen in der hellen Asche.

Das neue Jahr beginnt mit einem langen Spaziergang. Anemonen blühen, die Luft ist warm und weich. Am Himmel fliegen Schwalben. Ob sie noch da sind, oder wieder?

3 Kommentare zu „Jahreswechsel

  1. Moin und Kalimera, schön wieder was aus Frangokastello zu lesen. Das Wetter, die Temperaturen machen mich sehr neidisch. Die nächsten Tage soll es ja noch wärmer werden – die Halkyonischen Winde.

    Am 8. Januar 2016 hatte ich eine Küsten-Wanderung vom Korakas Strand (östlich von Frangokastello und unterhalb von Rodakino) nach Souda kurz vor Plakias unternommen. Bei schönstem Sonnenschein und blauen Himmel. Ich kam bei der Wanderung sehr ins Schwitzen. Da ich blöderweise meine Kopfbedeckung vergesen hatte, habe ich mir mein T-Shirt um den Kopf gewickelt.

    Ich habe den gesamten Monat Januar 2016 in Frangokastello verbracht. Ich bin in diesem Monat der einzige Fremde im Dorf gewesen.

    Die erste Woche habe ich damit verbracht Müll am Strand zu sammeln. Vom Katello bis zur Taverne Votalos habe ich etliche Säcke voll Plastik-Müll gesammelt. Die Abende habe ich im Kali Kardia verbracht.

    Der alte und jetzt unbewohnte Ortsteil von Chora Sfakion heißt Georgitsi.

    Wünsche euch weiterhin eine schöne Zeit in Frangokastello.

    Kalí Chroniá, kv

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  2. Liebe Alle
    Wir lesen fleissig euren Blog, weil er uns so an unseren unvergesslichen Aufenthalt auf Euböa erinnert. Im Januar gab es die Vassilopita, ein Event im Dorf mit anschliessendem Tanz in der Taverne. Gibt es das in Kreta auch? Geniesst jedenfalls eure Zeit – weit weg von allem Stress und von … Corona. Und : χρόνια πολλά !
    Felix und Geneviève

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  3. Ein Kind ist ein Buch, aus dem wir lesen und in das wir schreiben sollen.
    Peter Rosegger

    Rosa und Stella, wohl im Zentrum eurer aussergewöhnlichen Reise und Auszeit, liefern mit Bestimmtheit reichlich Stoff fürs entsprechende Buch. Arbeitet weiterhin an dieser spannenden Familiengeschichte, dessen Inhalt packender und informativer nicht sein könnte.
    Jost Troxler

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