Im Bärenwald

Was ist das hier? Was ist los mit diesem Ort? Es ist eigenartig. Die Luft wirkt klarer und gleichzeitig schwerer, ganz so, als schlösse sich die Welt ganz dicht um meinen Körper. Über dem Wald liegt eine Stille, in die jedes Geräusch hineinfällt wie ein Stein in einen tiefen Teich.

Durch eine Schlucht sind wir von Orăștie nach Costești und von da bis ganz zuhinterst ins Tal gefahren. Hier liegt mitten in unendlichen Wäldern Sarmizegetusa Regia. Der Ort war in der Antike während zweier Jahrhunderte die Hauptstadt des Reiches der Daker. Das Volk, das damals die Karpaten und Siebenbürgen besiedelte, wurde 106 n. Chr. von den Römern unterworfen und Sarmizegetusa zerstört. Viele Rumänen identifizieren sich jedoch bis heute mit den Dakern – deshalb heisst die bekannte rumänische Automarke auch Dacia.

Das letzte Stück vom Ende der Strasse bis hinauf zur archäologischen Stätte geht man zu Fuss. Ein Schild weist darauf hin, dass wir uns hier in einer Zona frequentata da ursi befinden, also in einem Gebiet, in dem oft Bären unterwegs sind. Und dann treten wir ein in dieses Waldreich. Viel gibt es eigentlich nicht mehr zu sehen. Da sind die Reste der Stadtmauer, dort ein Stück einer gepflasterten Strasse. Auf dem Kultplatz, stehen noch die steinernen Fundamente der Holzsäulen, die einst die Dächer der Tempel stützten. Steinkreise gibt es hier und eine grosse liegende, runde, Steinscheibe. Ist es eine Sonnenuhr? War es ein Opferplatz? Die Informationen auf den Hinweistafeln und im Internet sind widersprüchlich – offenbar weiss niemand so recht, welchem Zweck die Monumente hier dienten. Vielleicht ist das aber auch gar nicht nicht so wichtig. Es genügt, einfach in die einzigartige Atmosphäre dieses Orts einzutauchen.

Unter hohen Tannen steht ein Mann am Feuer und rührt sorgfältig in einem riesigen Topf. Dann und wann greift er zum Beil, spaltet gekonnt ein, zwei Scheite und legt sie nach. Vasile ist Bergführer und Mitglied der Bergretter im Retezat-Nationalpark. Auf der letzten Tour hat er an die fünfzehn Kilo Heidelbeeren gesammelt, und jetzt kocht er Konfitüre daraus. Er und seine Schwester führen zusammen das Camping-Hotel Valea Iarului am Rand des Nationalparks. Anstelle von Zimmern gibt es hier auf einer weiten Wiese Zelte zu mieten. Wir sind auch mit dem Dachzelt willkommen, und so wird Valea Iarului für einige Tage unser Zuhause.

Auch dieser Fleck Erde liegt zuhinterst und zuoberst in einem waldigen Tal, und hierher kommt nur, wer genau diesen Ort gesucht hat. Wir sind froh, den Menschenmassen – ja, wirklich! – entlang der Transalpina-Strasse entkommen zu sein und geben uns der Ruhe hin. Hier gibt es ein Trampolin und einen Sandkasten, eine Rutschban und eine Kiste mit Holzklötzen zum Spielen. Rosa und Stella fühlen sich sofort wohl. Sie haben ein feines Sensorium dafür, welche Plätze für sie gut und wo sie willkommen sind. Das hier ist so ein Ort. Die nächsten Tage sind unsere Kinder munter, fröhlich und ganz selbständig unterwegs. Auch dem Milobär geht es hier gut: Weit und breit keine Katzen, dafür Menschen, die sich über ihn freuen, zwei freundliche Hunde und ganz viel Platz. Bald darf er den ganzen Tag ohne Leine herumspazieren und geniesst seine Freiheit sichtlich.

Die Wanderlust packt uns schon nach kurzer Zeit. Direkt hinter unserem Zelt beginnt einer der Wanderwege durch den Retezat-Nationalpark. Ein Rundweg soll es sein, gut ausgeschildert. Vipern und Bären auch hier, aber kein Grund zur Beunruhigung. Und, so lassen wir uns sagen, die Wanderung ist auch mit Kindern zu schaffen. Und sonst können wir ja immer noch auf dem gleichen Weg zurück laufen. Wir packen also unser Rucksäckli, ziehen die Wanderschuhe an, und ich schnalle Stella auf meinen Rücken.

Der Weg führt durch eine spektakuläre, wilde Schlucht mitten im Wald. Felsen gibt es hier, Moos und Blumen. Das Licht dringt nur gedämpft durch Wipfel, Äste und Blätter bis zu uns herab. Es dauert nicht lange, da steht eine erste kleine Kletterpartie an, dann eine zweite, und schliesslich steigen wir auf Leitern durch die enge Schlucht, dicht hinter Rosa und den Milobär unterm Arm.

Bald ist klar: Hier gibt es kein Zurück. All diese Leitern und Stege wieder runter, das tun wir uns nicht an. Also weiter, immer vorwärts diese Schlucht hinauf, und sie will kein Ende nehmen. Endlich lichten sich die Bäume, und der Weg wird noch steiler. Wir klettern den Hang hinauf. Das grossartige Berg- und Hügelpanorama des Nationalparks eröffnet sich vor uns. Der Pfad wird zu einem Steig, der fast senkrecht durch den Fels führt. Mir ist mit Stella am Rücken einigermassen mulmig zu Mute, und wir sichern Rosa mit der Hundeleine.

Als wir endlich auf dem Bergrücken ankommen, bauen wir ein Zwergenhaus, essen unser Znünibrot, Bananen und Gummibärli zum Zmittag und beginnen dann mit dem Abstieg. Jetzt folgen wir nicht mehr den blauen, sondern den roten Markierungen. Dass die zu einem Wanderweg gehören, der wohl seit Jahren nicht mehr unterhalten wird, merken wir erst, als wir schon wieder mitten in einem Tobel stecken. Eigentlich ist das hier völlige Wildnis. Zusammen mit zwei rumänischen Wanderern kämpfen wir uns durch Brennesseln, über Wurzeln und umgestürzte Bäume talwärts. Dazu jodele ich was das Zeug hält, um die Bären zu vertreiben. Zu gern hätte ich hier einen gesehen. Doch als wir nach über sechs Stunden wieder bei unserem Zelt ankommen, bin ich trotzdem froh, dass das Jodeln genützt hat. Und so bleibt der einzige Bär, den wir in den Karpaten gesehen haben unser Milobär.

6 Kommentare zu „Im Bärenwald

  1. Allerhand! Nach diesem mutigen Bravourstück :–) müsste doch vom lokalen Touristenverein ein Gratis-Bärenritt (für Kinder) oder eine (selbstredend ebenso risikolose) Drittimpfung (für Erwachsene) angeboten werden.

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  2. Liebe Familie
    Besten Dank für diesen Reisebericht. Für mich ist der Anfang des Berichts sehr aufschlussreich, denn das kannte ich bisher nicht. Dass ihr so viel erlebt und eine so, sagen wir fast waghalsige Wanderung macht, freut mich und ist auch für die Kinder was. Dass sie so lang wird, das konntet ihr ja nicht voraussehen, aber sie war ja, wie hier beschrieben doch recht interessant.
    Ich wünsche euch weiterhin viel Freude und alles Gute
    Thomas H.

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  3. Ihr lieben Wandervögel
    Da stockt mir bei der Lektüre der Atem. Ich sah beinahe Bären auf mich zukommen. Gott sei Dank war es nur Milobär. Gute Weiterreise und weiterhin viel Spass, Elisabeth

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  4. hm, recht abenteuerlich, der weg und die aussicht, den bären zu begegnen….und zum glück ist es ja glimpflich abgelaufen… weitere spannende tage wünsche ich euch, und natürlich, dass ihr gesund bleibt. ich habe mir nämlich grad am bettpfosten den 2.kleinsten zeh gebrochen, und es gurkt mich recht an, nicht nach belieben herumzulaufen…. auch das vergeht….

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  5. Liebi Nadja
    Das si ja sehr spannendi Gschichte was dir da erläbet.
    Das brucht aber o Muet mit de zwöi Chline so ds reise.
    I wünsche öich witerhin viel Spass u vieli schöni Erläbnis.
    Liebi Grüess
    Mei u Familie

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