Güzelyurt – „schöne Heimat“, heisst die kleine Stadt, die sich vor uns an den Hügel schmiegt. Der Ort ist aus zwei Gründen eines unserer Ziele auf dieser Reise. Hier ist im 4. Jahrhundert Gregor von Nazianz aufgewachsen, der spätantike christliche Theologe, über den ich meine Doktorarbeit geschrieben habe. Und von hier stammen viele der Menschen, die wir auf der Reise von Griechenland in die Türkei in Νέα Καρβάλι (Nea Karvali) getroffen haben. Unserem Freund Alkis versprachen wir bei unserem Spaziergang am Strand, uns nach dem Haus seiner Vorfahren umzusehen. Noch heute soll auf dem Stein über der Türe ΟΙΚΟΣ ΤΣΟΠΟΓΛΟΥ, Haus Tsopoglou zu lesen sein.

Es ist Mittag. Nachdem wir die letzten Nächte im Ihlara-Tal in unserem Zelt bei vier Grad gefroren haben wie Schlosshunde, ist es jetzt wieder richtig heiss. Daniel findet einen Kebap-Laden, in dem es trotz des Ramadan Take-Away-Döner gibt. In einer versteckten Ecke des kleinen Stadtparks essen wir schnell unser Zmittag – es wird während des Fastenmonats nicht gern gesehen, wenn man öffentlich isst. Dann besuchen wir die Gemeindeverwaltung. Die Verständigung auf Nullenglisch bzw. Minimaltürkisch ist schwierig. Von einem Haus Tsopoglou weiss hier niemand etwas. Der junge Mann, der als Übersetzer herbeigerufen wurde, entpuppt sich im Verlauf der nächsten Stunden als Hotelbesitzer, und so kommen wir anstatt zu dem gesuchten Haus zu einem sehr schönen und enorm günstigen Zimmer im Cappadocia Antique Gelveri Cave Hotel. Es ist nicht, was wir eigentich wollten, aber nach den eiskalten kappadokischen Nächten eine Wohltat. Von hier aus erkunden wir die nächsten Tage Güzelyurt und seine Umgebung.

Ursprünglich hiess der Ort Karballa, später der türkischen Sprache angepasst, Gelveri. Bis ins 20. Jahrhundert lebten hier vor allem Griechen. 1923 wurden sie im Rahmen des Bevölkerungsaustau-sches in die Nähe von Kavala in Nordgriechenland zwangsumgesiedelt. So entstand dort das Dorf Nea Karvali. Im Gegenzug wurden hier muslimische Familien aus Griechenland plaziert. Sie waren es, die diesem Ort seinen neuen Namen Güzelyurt, „schöne Heimat“ gaben. Und schön ist es hier wirklich! Der alte Dorfkern liegt auf einem Hügel, da wo sich die Schlucht in zwei Täler aufteilt. Manche der Häuser wurden sorfältig erhalten und restauriert, andere sind am Verfallen. Ein Hauch von herrschaftlichem Glanz umweht sie aber selbst jetzt noch. Dazwischen Gärten, Obstbäume, Hühner, Schafe, Ziegen und viele Kinder, die spielen und Fahrrad fahren.
Das Haus der Vorfahren unseres Freundes Alkis finden wir trotz langer Suche nicht. Das Dorf ist zu gross, die Häuser zu viele, und manche verstecken sich hinter hohen Mauern. Lieber Alkis – vielleicht musst du hier einmal selbst suchen kommen!

Unterhalb des Dorfes beginnt das Klostertal. Schon ab dem dritten Jahrhundert lebten hier mehrere Klostergemeinschaften. Und auch hier gibt es wieder unzählige Höhlenhäuser und in den Fels geschlagene Kapellen und Kirchen.
Die kreuzförmige Gregorskirche am Talgrund wurde auf dem Fundament einer Kapelle aus dem 4. Jahrhundert errichtet und dem heimischen Heiligen Gregor von Nazianz geweiht. Noch im selben Jahr, in dem die griechischen Bevölkerung wegzog, wurde sie in eine Moschee umgewandelt. Von hier also brachten die Auswanderer ihre Kirchenschätze und die Reliquien des Gregor von Nazianz nach Nea Karvali mit! Allerdings will sich leider niemand finden lassen, der einen Schlüssel besitzt, und so bleibt die Türe zu.
Der Gebetsrufruf wird – mit einigen Sekunden Verzögerung – aus der neuren Moschee oben im Dorf ins Minarett bei der Kilise Câmii, der Kirchenmoschee, wie die Gregorskirche heute heisst, übertragen. Dabei entsteht zusammen mit dem Echo in der Schlucht ein einigermassen psychedelisch anmutender Stimmencluster aus einem einzigen Muezzin.
Weiter unten in der Schlucht gibt es noch mehr Kirchen. Rosa und ich machen im Halbdunkel Muster, Heilige und Szenen aus der Bibel aus. Besonders Maria, die sich nach der Geburt ausruht, und das gewickelte, von Ochs und Esel bewachte Jesuskind, begeistern meine Tochter jedes Mal aufs neue. Und dass das Kindlein nach der Geburt von den Hebammen gebadet wird, findet sie ebenfalls toll.
Manche der Kirchen sind über und über vollgekritzelt mit Graffitis – nicht nur mit neuen, nein, vor allem mit alten, griechischen. Sind es die Namen von Menschen, die hierher kamen um zu beten und sich dann an der Wand verewigten, damit die Heiligen ihre Anliegen nicht vergessen?

Das Klostertal wird enger und enger, der Pfad führt jetzt bergauf. Zwischen Weiden schlängelt sich ein Bach talwärts, Moos bedeckt die Steine, Vögel pfeifen. Auf einmal wird mir klar, dass das hier die alte Wegverbindung zwischen Güzelyurt und Sivrihisar ist, zwischen Karballa und dem Landgut Arianzos, wie es früher hiess. Wenn Gregor von Nazianz, als er noch ein Gregörchen war, von seinem Elternhaus in Arianzos zur Schule in Karballa lief, dann wird dies sein Weg gewesen sein.
Sivrihisar bzw. Arianzos, Gregors Geburts- und Sterbeort liegt am oberen Ausgang der Schlucht am Berghang. Es ist ein bescheidenes Dorf, aber immerhin mit Spielplatz und Café. Am Abend treiben die Bauernfamilien ihre Tiere gemächlich auf der Hauptstrasse zurück in die Ställe. Irgendwo da, wo der alte Dorfteil von Sivirihsar ist, wird das Gut von Gregors gelegen haben. Aber es sich vorstellen, mitten in diesen unzähligen Mauern, Ruinen und Steinen, das ist schwierig.
Auf der angrenzenden Hochebene steht heute noch die Kızıl Kilise, die Rote Kirche aus dem 5. oder 6. Jahrhundert. Der Ort strahlt eine tiefe Stille aus, in der alles andere zu laut wirkt.
Doch zurück in die Schlucht zwischen Güzelyurt und Sivrihisar. Hier entsteht vor meinem inneren Auge noch ein neues Bild von diesem grossen, strengen, vielstudierten und vielzitierten Theologen, Patriarchen und Kirchenvater: Es ist das Bild des Jungen, der er war, bevor er sich in die Kunst der Rhetorik stürzte, bevor ihn christliche Dogmatik beschäftigte und plagte, bevor sich mit Andersdenkenden stritt und bevor er an den kirchenpolitischen Irrungen und Wirrungen anfing zu verzweifeln.
Ich sehe Gregor vor mir, wie er mit seinen Freunden durch die Schlucht strolcht. Wie sie am Bach spielen und von Stein zu Stein springen, wie sie sich in den Höhlen verstecken, und kichernd vor den alten Mönchen aus den Felsenklöstern davonrennen.
Und ich verstehe, warum das der Ort ist, an den er als alter Mann zurückkommt und seine letzten Jahre verbringt – es ist eben seine güzel yurt, seine schöne Heimat.

Danke Nadia und Dani für den schönen Bericht. Das Schreiben, liebe Nadia, gehört zu Dir wie für Dani das musizieren. Komplimente an beide. Liebe Grüsse und eine gute Weiterfahrt. Rolf
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Hallo Nadja, hallo Familie
Interessant, dieser neue Bericht von eurer Reise gen Süden, Richtung Syrien. Aufgrund der guten Erzählungen kann man direkt miterleben, wie es da sein mag, in diesem üppigen Grün und der bergigen Landschaft. Auch die Bilder als Illustration zu den Erzählungen sind wieder super schön.
Wünsche euch weiterhin alles Gute und viele schöne Erfahrungen eurer Reise.
Ä Gruess, Thomas H.
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Danke, lieber Thomas, für die Rückmeldung und fürs treue Mitlesen!
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Hallo Nadja. Daniel, Rosa und Stella!
Ich finde eure Geschichten und Bilder so schön – bitte weiter so! Leider verstehen wir Wiener die Podcasts nicht 🙂
LG von Sabine und Χενρη aus Wien!
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