Zu Gast im Tur Abdin

Der Besuch im Kloster Mor Gabriel ist eine kurze Sache. Ein junger Mann führt uns zusammen mit drei türkischen Touristen im Eiltempo durch die öffentlichen Bereiche der Klosteranlage, und ehe wir uns versehen, sind wir schon wieder beim Ausgang. Jetzt stehen wir in der Mittagshitze auf dem Parkplatz vor den hohen Mauern des Klosters und haben keine Ahnung, wohin. Ein Blick auf die Karte hilft. Eins der nächsten Dörfer heisst Haberli, und die Kirche dort Mor Dodo, Heiliger Dodo. Ein Ort mit so entzückenden Namen kann kein schlechter Ort sein, denken wir, und fahren los.

Kurze Zeit später erreichen wir Haberli – es ist eines der christlichen Dörfer im hügeligen Gebiet des Tur Abdin, jenes Kalksteingebirges ganz im Südosten der Türkei. Eine gewaltige Militäranlage bewacht den Ortseingang. Zuoberst in einem überdimensionierten, tarnfarbenen Hamburger steht ein Soldat, das Maschinengewehr im Anschlag. Daniel steigt aus, grüsst, fragt nach Mor Dodo, und wir dürfen passieren. Vor uns taucht ein Ort auf wie aus einem Bibelbilderbuch – flache gelbbraune Steinhäuser mit dicken Mauern und winzigen Fenstern, auf den ersten Blick sind sie kaum auseinanderzuhalten.

Die Tür zum Kirchhof ist offen, und wir essen im Schatten eines grossen Olivenbaums unser Zmittag. Zwei Frauen und ein Mann sind daran, die Kirche für den morgigen Sonntagsgottesdienst zu putzen. Sie bringen uns Tee und fragen, woher wir kommen. Grüezi mitenand! klingt es auf einmal laut und in lupenreinem Schweizerdeutsch durch den Hof, und dann steht Guido vor uns – gebürtiger Haberlianer, der 40 Jahre in der Nähe von St. Gallen lebte, und jetzt zwischen dem Tur Abdin und der Schweiz hin und her pendelt.

Guido bietet uns an, in seinem Garten zu zelten. Wir nehmen die Einladung gerne an und tauchen ein ins Leben dieses Dorfes. Wir lernen Guidos Familie kennen, seine Frau Rihane und Martha, ihre Tochter. Sie ist in der Schweiz aufgewachsen und lebt seit einigen Jahren mit ihrem Mann und ihren Kindern im Heimatdorf ihrer Eltern.

Haberli ist einer der wenigen Orte in der Türkei, in denen ausschliesslich syrisch-orthodoxe Christinnen und Christen leben. In den Jahren des ersten Weltkriegs wurden die Aramäer von den Jungtürken verfolgt und massakriert. Viele der Überlebenden flohen nach Westeuropa, und bis heute leben mehr Aramäer in der Diaspora als in ihrem Herkunftsgebiet.

Heute leben noch etwas mehr als zwanzig Familien in Bsorino. Aber es fühlt sich eher so an, als lernten wir eine einzige grosse Familie kennen. Untereinander sprechen sie Aramäisch, es ist mit dem Hebräischen und dem Arabischen verwandt – die erste Sprache Gottes! – wie sie betonen. Wir erfahren, dass die Einheimischen ihr Dorf nicht Türkisch Haberli nennen, sondern in ihrer eigenen Sprache, Bsorino, Haus der Hoffnung. Es gibt hier nicht weniger als fünfundzwanzig Kirchen und Kapellen, und die meisten davon sind uralt. Die Mor-Dodo-Kirche etwastammt aus dem beginnenden 7. Jahrhundert, und sie ist nicht die älteste hier. Mor Dodo, der Heilige mit dem charmanten Namen, lebte im 6. Jahrhundert und war ein syrisch-orthodoxer Mönch und Bischof. Eigentlich hiess er David, erzählen uns unsere Gastgeber, doch aus Demut legte er seinen grossen Namen ab und nannte sich – in der Verkleinerungsform – Dodo. Zum Glück! Sonst hätten wir ihn vielleicht nie besucht und alle diese wunderbaren Menschen nicht getroffen…

Rosa hat sich sofort mit Marthas Tochter Ilenia angefreundet. Als es Zeit ist für die Vesperfeier, verschwinden die beiden Mädchen zum Tor hinaus in Richtung Kirche. Im Kirchhof ist jetzt das ganze Dorf versammelt, die Männer trinken Tee und die Kinder – vor allem die Mädchen! – spielen zwischen den Olivenbäumen Fussball, und ich kann ob ihrer Ballkünste nur staunen. Rosa sehe ich erst wieder, als die Feier schon begonnen hat. Mit einem feinen weissen Schleier auf dem Kopf und leuchtenden Augen steht sie stolz im Kreis der anderen Mädchen vorne in der Kirche.

Nach dem Gottesdienst nimmt Martha uns mit auf einen Abendspaziergang durchs Dorf. Die Kinder schlecken im Gehen ihre riesigen Glacen, wir klauben unterdessen frische Kichererbsen aus ihren Hülsen, sie sind noch weich, grün und süss. Martha warnt uns vor den Skorpionen, die in dieser trockenen Landschaft wohnen, und erklärt uns, welchen Heiligen die verschiedenen Kirchen geweiht sind, und mit welchen Anliegen die Menschen sie aufsuchen. Und dann kocht Rihane für uns alle Spaghetti, und es schmeckt wie zuhause.

Der Priester von Bsorino heisst Saliba Erden – auch er stammt von hier. Weil er die Psalmen so schön singen konnte, wollte ihn ein Bischof aus Antiochien schon als Jungen mitnehmen und zum Priester ausbilden lassen. Doch sein Vater war dagegen, und so nahm Salibas Leben einen anderen Lauf. Viele Jahre später, nach über zehn Jahren in der Schweiz, am Bodensee, wurde Saliba doch noch zum Priester seines Heimatdorfs gewählt. Als Saliba seine Geschichte erzählt, strahlt er vor Freude darüber, dass sein Wunsch schliesslich trotz allem in Erfüllung ging.

Als wir abreisen, ist unser Auto voll mit hausgemachten Hefeschnecken, selbst gekeltertem Syriani-Wein und Weinbeeren vom dorfeigenen Weinberg. Wir verlassen Bsorino in jeder Hinsicht reich beschenkt, dankbar und etwas wehmütig. Vor allem Rosa fällt der Abschied von ihrer neuen Freundin Ilenia schwer.

Saliba empfiehlt uns zwei weitere Klöster im Tur Abdin und meldet uns bei beiden gleich persönlich via Telefon an. Wir verbringen einen wunderbaren Mittag im Mutter-Gottes-Kloster in einem Dorf mit dem lustigen aramäischen Namen Hah und fahren dann weiter ins Dorf Saleh/Barıştepe. Als wir mit unserem Caddy vor den hohen Mauern des Mor-Yakup-Klosters anhalten, werden wir bereits erwartet und herzlich empfangen. Hier kommen wir zu unserem bisher exquisitesten Dachzeltplatz: Wir dürfen mitten im Klosterhof übernachten, Tuch an Wand mit der 1600 Jahre alten Kirche des Heiligen Jakob.

Mor Yakup gilt als eines der ältesten Klöster der Welt. Nach der Verfolgung und Ermordung der Aramäer im Tur Abdin im ersten Weltkrieg stand das es viele Jahrzehnte lang leer und verfiel zusehends. Ab den 60er Jahren wurde es mit grosszügigen Spenden aus dem Westen in Stand gesetzt und 2013 wiedereröffnet. Heute wohnen im Kloster Mor Yakup fünf Schwestern und ein Mönch, dazu zwei Familien mit Kindern und in wechselnder Besetzung junge Leute in Ausbildung – es ist eine fröhliche, generationen- und geschlechterdurchmischte Kloster-WG. Unter den wohlwollenden Blicken der Nonnen toben Rosa und Stella bald mit den anderen Kindern durch den Klosterhof.

Schwester Elisabeth hat viele Jahre in Deutschland gelebt. Souverän übersetzt sie zwischen uns und den Aramäisch sprechenden Klosterbewohnern hin und her. Sie wird für uns zu unserer Klostergrossmutter, die uns mit grosser Herzlichkeit verpflegt, umsorgt und verwöhnt. Der Abschied fällt uns auch hier schwer. Ich vermisse das Kloster Mor Yakup und seine Menschen schon bevor wir überhaupt das Dorf verlassen haben.

4 Kommentare zu „Zu Gast im Tur Abdin

  1. Wieder eine tolle Reportage von Euch. Zugerne werde ich auch diese Gegend der Türkei einmal bereisen. Spannend, wen Ihr alles trefft. Wir sind 2014 nur bis Diyarbakir gekommen. Weiterhin eine sichere und spannende Reise.

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  2. Liebe Nadja, lieber David, liebe Kinder
    Wunderschön, was ihr für Leute kennenlernt und was für Erfahrungen ihr machen dürft. Wunderschön, die Bilder zu den Texten, es freut mich von Herzen, dass ihr in dieser Gegend so gute Erlebnisse habt und dass ihr auch die Aramäer treffen könnt. Ein Volk, das immer und immer wieder verfolgt wurde, nur weil es dem Christentum anhängt und die Bibel als die Richtschnur des Lebens anwendet. Wie sehr mich das bewegt und freut, denn ich habe schon viel gehört über dieses Volk.
    Nun wünsche ich euch weitere schöne Erlebnisse und gute Menschen, die euch auf eurer Reise durch dieses Gebiet begleiten. Die Gastfreundschft scheint gross zu sein und so hat man auch mehr von der Reise.
    Häbets guet, passet uf u witerhin viel Freud und gueti Gsundheit!
    Ä Gruess, Thomas H.

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  3. Meine Liebsten
    es war wieder wunderschön von euren Erlebnissen zu lesen und die tollen Fotos zu anzuschauen. Ihr seht alle sehr entspannt und glücklich aus! Und dass Milo zum Fliegen kommt will auch etwas heissen. Ich freue mich auf jeden Beitrag von euch. Weiterhin gute Reise, ich bin gespannt wo’s hingeht.
    Alles Liebe.

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  4. sehr schön, was ihr alles erlebt! und ich denke, speziell für euch ist es hochspannend, auf diesen quellen des ersten christentums mit aramäisch! zu wandeln. und natürlich, die kinder freunden sich immer schnell an. sicher ist es bei euch auch heiss, bei uns seit einigen tagen, vom wintermantel zum bikini….

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